Ermessensfehler

Leerformelbegründungen stellen einen besonders schwer zu identifizierenden Typus von Begründungsfehlern in exekutiven und judikativen Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen dar.

Datum
Rechtsgebiet Öffentliches Recht
Ø Lesezeit 9 Minuten
Foto: Annie Spratt/unsplash.com

In Ermessensentscheidungen sind Leerformelbegründungen ein Sonderfall von Ermessensnichtgebrauch. Besonders haarig an den Leerformelbegründungen ist, dass sie nicht mit einer Ermessensfehlerprüfung [Link: Ermessensfehlerlehre], sondern nur mit einer Begründungsfehler- und einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erkannt werden können. Deshalb schauen wir uns Leerformelbegründungen in diesem Artikel gesondert an.

1. Was sind Leerformelbegründungen?

Zunächst muss man sich klar machen: Leerformelbegründungen können nur in Entscheidungen vorkommen, die erhöhte Anforderungen an die Begründung stellen. Für gerichtliche Entscheidungen ist dies offensichtlich. Sie müssen in der Regel auf der Grundlage komplexer Lebenssachverhalte (tatsächliche Feststellungen) in Bezug auf eine komplexe Rechtslage aus Normen und Rechtsprechung eine Entscheidung über Begehren (Anträge) treffen. Die Parteien sind auf die Entscheidungsbegründung angewiesen, um entscheiden zu können, ob sie gegen diese Entscheidung Rechtsmittel einlegen wollen oder nicht. Die übergeordneten Instanzen benötigen die Begründung. Nor so können sie überprüfen, ob die Entscheidung der Vorinstanz in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachvollziehbar ist.

Bei Verwaltungsentscheidungen ist es ein wenig komplizierter. Bei den Entscheidungen einer Behörde unterscheidet man in der Regel zwischen gebundenen Entscheidungen (Vorgehen nach Schema F) und Ermessensentscheidungen (mit Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite). Aber auch Entscheidungen mit Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsseite sowie Gestaltungsspielraum können eine ausführlichere, fallbezogene Begründung erfordern. (Eine Anleitung, wie Ihr die Begründung von Ermessensverwaltungsakten prüft, findet Ihr hier.)

★ Wichtiger Hinweis

Zusammengefasst könnt Ihr Euch also merken:

Höhere Begründungsanforderungen müssen Entscheidungen immer dann erfüllen, wenn die Entscheidenden nicht nach Schema F vorgehen können, sondern Entscheidungsspielraum haben und wenn die Entscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist.

Was sind bezogen auf die Entscheidungen mit erhöhten Begründungsanforderungen also Leerformelbegründungen?

Ganz knapp formuliert: Leerformelbegründungen sind Formulierungen, die wie Gründe aussehen, tatsächlich jedoch gar keinen Begründungswert besitzen. Ganz schön dialektisch!

Was ist damit genau gemeint? Mehrere Bundesgerichte haben im Rahmen von Entscheidungen Merkmale für Leerformelbegründungen entwickelt. Diese sind:

  • formelhafte Wendung
  • Textbausteine
  • universell einsetzbar
  • kein Eingehen auf den konkreten Fall
  • kein Bezug zum Zweck der Ermächtigung
  • Ermessensnichtgebrauch (im Fall von Ermessensentscheidungen)
✱ Fallbeispiel

Fallbeispiel: Meldeaufforderungen

Schauen wir uns anhand eines prägnanten Fallbeispiels mal an, was die Gerichte konkret damit meinen. Unser Fallbeispiel sind Meldeaufforderungen nach § 309 Abs. 2 SGB III. Zum Anwendungskontext der Norm könnt Ihr hier nachlesen.

Die Begründung in den meisten Meldeaufforderungen, die seit 30 Jahren von der Bundesagentur für Arbeit erlassen werden, lautet:

Ich möchte mit Ihnen über Ihre berufliche Situation sprechen.

Formelhafte Wendung

Diese Begründung ist eine Leerformelbegründung, weil sie sämtliche Merkmale von Leerformelbegründungen besitzt. Es handelt sich um eine formelhafte Wendung, weil sie seit mindestens 1994 regelmäßig gebraucht wird. Um das herauszufinden, könnt Ihr natürlich nicht einfach den Bescheid anschauen, sondern Ihr müsst bei der Behörde anfragen, wie häufig und seit wann sie diese Begründung verwendet.

★ Wichtiger Hinweis

Merkt also: Um festzustellen, ob eine Begründung einzelbezogen ist oder ob Ihr es mit einer regelmäßig verwendeten Standardbegründung zu tun habt, müsst Ihr bei der Behörde direkt nachfragen (Amtsermittlungsgrundsatz).

Textbaustein

Es handelt sich bei der Begründung auch um einen Textbaustein, der seit 2008 in Form der Termin-Verwaltungssoftware ATV deutschlandweit verbreitet wird. Auch hierfür müsste ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer Meldeaufforderung prüft, recherchieren.

Universell einsetzbar

Das nächste Merkmal könnt Ihr ohne aufwendige Sachverhaltsermittlung überprüfen. Ihr braucht allerdings Kenntnis von der Anwendung der Norm. Die Begründung ‚Gespräch zur beruflichen Situation‘ ist universell einsetzbar. Denn sie passt auf alle arbeitsfähigen Arbeitslosen in jedem Alter und in jeder Situation. Die Behörde braucht sich also nicht die Akte anzuschauen, um eine Meldeaufforderung mit dieser Formulierung zu begründen. Sie kann immer behaupten, sie wolle mit den Arbeitslosen über ihre berufliche Situation sprechen, ohne dass irgendwelche Widersprüche entstehen.

Kein Eingehen auf den konkreten Fall und fehlender Bezug zum Zweck der Ermächtigung

Klar ist auch, dass diese Begründung überhaupt nicht auf den konkreten Fall eingeht und auch nicht erkennbar ist, welcher Zweck i.S.d. Ermächtigungsgrundlage verfolgt werden soll. Es kann sein, dass die Mitarbeiter:innen, die die Meldeaufforderung mit Leerformelbegründung erlassen, sich mit dem konkreten Fall befasst und festgestellt haben, dass Handlungsbedarf besteht. Es kann jedoch genauso gut nicht sein. Darüber, welche der in der Norm in Abs. 2 genannten fünf Zwecke die Behörde beim jeweiligen Meldetermin verfolgen will und warum dies im konkreten Fall geeignet und erforderlich ist (Verhältnismäßigkeitsprüfung!), kann nur spekuliert werden.

Ermessensnichtgebrauch

Und, last but not least, dass Ermessensnichtgebrauch vorliegt, ergibt sich schon allein daraus, dass diese (Schein-)Begründung keine Ermessenserwägungen dokumentiert.

Auch bezüglich des zu leistenden Entschließungsermessens, nämlich sanktionsbewehrt zur Meldung aufzufordern oder dies nicht zu tun und stattdessen eventuell zu telefonieren (zum geforderten Ermessen in § 309 Abs. 2 SGB III [Link zum Fallbeispiel für Tüftler]), gibt es in der Leerformelbegründung keinerlei Ermessenserwägungen. Pros und Kons der verschiedenen Entscheidungsalternativen werden nicht erörtert. Die Behörde hat gar nicht erkannt, dass sie Entscheidungsalternativen hat und eventuell auch telefonieren oder emailen könnte. Es liegt dementsprechend Ermessensnichtgebrauch vor.

Alles in allem:

‚Ich möchte mit Ihnen über Ihre berufliche Situation sprechen.‘ ist eine perfekte Leerformelbegründung für Meldeaufforderungen nach § 309 Abs. 2 SGB III.

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2. Warum sind Leerformelbegründungen unzulässig?

Auch dazu haben sich die Bundesgerichte und die Autor:innen von Begründungsfehlerlehren geäußert: Wie weiter oben erwähnt, gewährleisten Begründungen in rechtsmittelfähigen judikativen und exekutiven Entscheidungen deren Überprüfung. Ohne Begründung kann niemand – weder die Adressat:innen der Entscheidung, noch Widerspruchsbehörden, noch Gerichte – kontrollieren, ob die Behörde gute Gründe für ihre Entscheidung hatte oder willkürlich gehandelt hat. Ohne Begründungspflicht kann die Behörde reihenweise Meldeaufforderungen ins Blaue hinein versenden.

Sollten sich ein paar Bescheidadressat:innen über die sanktionsbewehrte Meldeaufforderung beschweren, kann die Behörde einfach eine Begründung nachliefern. Oder, falls sie bei der durch den Widerspruch angeregten erstmaligen Konsultation der Verwaltungsakte feststellt, dass sie doch keinen Meldegrund hat, kann sie den VA unbegründet zurücknehmen. Gesetzlich gibt es hierbei keine Schranken. Leerformelbegründungen machen eine solche Verwaltungspraxis möglich.

Effektiver Rechtsschutz

Die beschriebenen Konsequenzen lassen sich übrigens auch verfassungsrechtlich beschreiben: Ohne überprüfbare Begründung ist der Justizgewährungsanspruch aus Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 19 Abs. 4 GG (lex specialis bezogen auf hoheitliche Akte der Verwaltung und der Justiz) verletzt. Deswegen gelten Leerformelbegründungen genauso wie judikative und exekutive Entscheidungen ohne Begründung als schwerwiegende formelle Begründungsfehler. Sie sind im Verwaltungsverfahren nur unter erschwerten Bedingungen nach § 114 VwGO bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (und nicht, wie beim Ergänzen von Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz) heilbar. Bei gerichtlichen Verfahren stellen sie (absolute) Revisionsgründe dar.

Diese Zusammenhänge führt die Meldeaufforderung mit Leerformelbegründung gut vor Augen. Da die Begründung ‚Gespräch zur beruflichen Situation‘ immer passt, können Bescheidadressat:innen den Verwaltungsakt prinzipiell nicht mit der Begründung anfechten, dass der sanktionsbewehrte Meldetermin nicht geeignet oder nicht erforderlich zur Zweckverfolgung sei. Der Zweck des Meldetermins ist schließlich völlig offen, weil die Begründung, Gespräch zur beruflichen Situation‘ zwar einen Gesprächsinhalt, jedoch gerade keinen Zweck benennt.

Allgemein formuliert: Der Verwaltungsakt mit Leerformelbegründung ist falsifizierungsresistent und daher nicht mit materiellen Gründen anfechtbar. Das Einzige, was Bescheidadressat:innen tun können, wenn sie vermuten, dass die Meldeaufforderung willkürlich oder nach Schema F ohne Einzelfallprüfung erlassen wurde, ist sie wegen eines schweren formell rechtlichen Begründungsfehlers, nämlich‚ wegen Leerformelbegründung‘, anzufechten.

3. Zusammenfassung: Übertragung auf die Praxis

Wie prüft Ihr also einen Verwaltungsakt auf den Begründungsfehler‚ universell einsetzbare Leerformelbegründung‘?

Ihr müsst zunächst feststellen, ob die Ermächtigungsgrundlage des Verwaltungsakts eine gebundene Entscheidung oder einen Ermessensspielraum erfordert. Wenn letzteres der Fall ist, geht Ihr die Merkmalsliste im ersten Abschnitt durch und erörtert in der Klausur, welche Merkmale aus der Liste die Begründung aufweist und welche nicht. In der Praxis müsstet Ihr natürlich gemäß Eurer Amtsermittlungspflicht bei der Behörde nachfragen, wie häufig sie die Begründung einsetzt und ob die Begründung eventuell über die Verwaltungssoftware in Textbausteinlisten verbreitet wird.

Des Weiteren könnt Ihr versuchen, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Wenn Ihr der Versuchung widersteht, in die allgemeine Leerformel konkrete, fallbezogene Gründe hineinzuinterpretieren, werdet Ihr bereits bei der Bestimmung des legitimen Zwecks Schwierigkeiten bekommen und feststellen, dass Ihr keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen könnt, weil die Begründung gar keinen Zweck benennt.

★ Wichtiger Hinweis

Achtung:

Bei Verwaltungsentscheidungen muss häufig zwischen zwei legitimen Zwecken unterschieden werden: dem Zweck, den die Norm angibt, und dem konkreten Zweck im konkreten Fall.

✱ Fallbeispiel

Um ein Beispiel zu geben:

Gemäß § 36 Abs. 5 StVO darf die Polizei Fahrzeuge anhalten, um „Kontrollen durchzuführen“. Die Begründung gegenüber den Fahrzeugführer:innen, in deren Rechte mit den Kontrollen eingegriffen wird, kann aber natürlich nicht lauten: „Wir kontrollieren Sie, weil wir gemäß § 36 Abs. 5 StVO kontrollieren dürfen.“ Dann wäre die Kontrolle ja Selbstzweck und somit gerade kein legitimer Zweck. Sondern die Polizei muss einen fallbezogenen Zweck angeben, wie‚ Allgemeine Verkehrskontrolle. Wir halten jedes zehnte Auto an, um die Fahrtüchtigkeit der Führer und die nach den Verkehrsvorschriften mitzuführenden Papiere zu überprüfen’.

Sollte man eine Prüfung auf Leerformelbegründung regelmäßig durchführen, wenn man einen Ermessens-VA prüft?

Ja, denn Ermessensverwaltungsakte sind besonders anfällig für Leerformelbegründungen. Das ist so, weil hier die Behörde aufwendige Tatsachenermittlungen durchführen und ausführlichere Begründungen verfassen muss, wozu die Behördenmitarbeiter:innen häufig keine Zeit und/oder Lust haben.

Die Leerformelbegründung ist für die Behörde nicht nur praktisch, sondern sie vermeidet auch effektiv zusätzlichen Aufwand, der dann entsteht, wenn Bescheidadressat:innen Widerspruch einlegen. Bei Leerformelbegründungen ist ein solcher Widerspruch, wie gezeigt, mit einer materiell-rechtlichen Begründung nicht möglich.

Noch mehr Details zu Leerformeln findet Ihr hier.

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