Revision Teil 3 – Absolute Revisionsgründe
Revision Teil 3: eine detaillierte Übersicht, absolute Revisionsgründe im Einzelnen und nützliche Tipps für die Examensklausuren.
I. Einleitung
Nachfolgend wird – klausurrelevant aufbereitet – die Prüfung der absoluten Revisionsgründe erläutert. Eine Übersicht zu den Verfahrensvoraussetzungen findet ihr in Teil 2 des Leitfadens zur Revision; eine Struktur der verfahrensrechtlichen Gesetzesverletzungen findet ihr in diesem Teil (absolute Revisionsgründe) und in Teil 4 (relative Revisionsgründe) des Leitfadens zur Revision.
1. Vorab
Grundsätzlich gilt es in einer Revisionsklausur mehrere Prüfungsschritte zu beachten:
(2) Verfahrensvoraussetzungen/Verfahrenshindernisse
(3) Absolute Revisionsgründe
(4) Relative Revisionsgründe
(5) Sachlich rechtliche Gesetzesverletzungen
Die Revisionsklausur ist definitiv machbar. Zwar ist es anhand der möglichen Fallkonstellationen unmöglich, diese für die Klausur abschließend zu lernen. Doch werden im Folgenden die Grundstruktur und wesentliche Fragen dargestellt. Hiermit ist es möglich, gut durch die Klausur zu kommen.
Jura Individuell-Tipp: Unumgänglich ist es, in der Revisionsklausur die detaillierten Einzelfragen mit dem zulässigen Hillfsmittel „Meyer- Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Kommentar“ zu bearbeiten.
2. Strukturelle Einordnung
Bei den absoluten Revisionsgründen geht es nicht mehr um Verfahrensvoraussetzungen und noch nicht um materiell-rechtliche Fehler des Urteils. Vielmehr geht es um die Prüfung von Vorschriften „auf dem Weg“ zum Urteil. Hat das Gericht seinen Job in der Hauptverhandlung korrekt – revisionsfest – gemacht? Oder sind ihm dabei Fehler unterlaufen? Beispielsweise kann eine vorgeschriebene Handlung unterblieben oder fehlerhaft vorgenommen worden sein oder eine vorgenommene Handlung des Gerichts war unzulässig. Immer muss es dabei aber auch zu einer „Beschwer“ des Angeklagten gekommen sein.
Jura Individuell-Tipp: In der Begründetheit der Revision prüft man nach den Verfahrenshindernissen die Gesetzesverletzung. Diese wird grundsätzlich in vier Schritten geprüft. So wird zunächst nach § 337 StPO untersucht, ob eine Gesetzesverletzung vorliegt. Sodann überprüft man, ob das Urteils auf dieser beruht und schließlich werden die Beweisbarkeit und die Revisibilität des Rechtsfehlers geprüft (also keine Präklusion und Beschwer des Angeklagten). Ist der Angeklagte jedoch offensichtlich mit seinem Einwand präkludiert, zieht man die Prüfung der Präklusion vor (aber auch nur in diesem Fall!).
II. Absolute Revisionsgründe im Einzelnen
Jura Individuell-Hinweis: Bitte macht nicht den Fehler und schreibt in den Obersatz, dass hier eine Verletzung von § 338 StPO in Betracht kommt! Es geht immer nur um die Prüfung der in § 338 Nr. 1 – 8 StPO genannten Verfahrensvorschriften. Nur diese können verletzt sein. § 338 StPO ist eine reine Kausalitätsvermutung. Die Vorschrift stellt die unwiderlegbare Vermutung auf, dass bei einem der in § 388 StPO genannten Verstöße das Urteil auf der dieser Gesetzesverletzung beruht. Grund dafür ist, dass in diesen Fällen der Nachweis des Beruhens trotz der Schwere des Rechtsverstoßes nur schwer geführt werden kann. Gegen die Vorschrift selbst kann das Gericht nicht verstoßen, denn es geht hier um die Folge des jeweiligen Rechtsfehlers (Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 58. Auflage, § 338 Rn. 1). Für die Klausur bedeutet das Folgendes: Das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrunds wird erst und nur im Ergebnis festgestellt – und keinesfalls in einem Obersatz!
1. Absolute Revisionsgründe: Die vorschriftswidrige Besetzung (§ 338 Nr. 1 StPO)
a) Grundsätzliches
Die Vorschrift des § 338 Nr. 1 StPO ist eine Ausprägung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und § 16 S. 2 GVG und sichert, dass die Gerichtsbesetzung genau nach den Vorschriften des GVG und des DRiG in Verbindung mit dem Geschäftsverteilungsplan erfolgt. In der Klausur würde eine umfangreiche Prüfung jedoch den Rahmen sprengen, sodass die Probleme an der Oberfläche liegen und anhand des Meyer-Goßner gut abzuarbeiten sind. Entscheidend ist, dass ihr die Rügepräklusion des § 338 Nr. 1 StPO i. V. m. § 222a StPO bzw. § 222b StPO im Auge behaltet. Nach § 222b Abs. 1 S. 1 StPO kann ein Besetzungseinwand nur bis zur Vernehmung des ersten (!) Angeklagten zur Sache (!) erfolgen.
Die Rügepräklusion findet immer dann Anwendung – und das solltet ihr in einem Satz klarstellen –, wenn es sich um eine im ersten Rechtszug vor dem Landgericht stattfindende Hauptverhandlung handelt, § 222a StPO. Nach § 222a StPO ist die Besetzung des Gerichts zu Beginn der Hauptverhandlung mitzuteilen. Die Hauptverhandlung beginnt mit der Vernehmung des Angeklagten zur Person. In der Klausur wird in der Regel die Besetzung ordnungsgemäß mitgeteilt worden sein, womit § 222b StPO Anwendung findet und die Besetzung bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache gerügt werden muss. Ob die Rüge rechtzeitig erfolgt ist, wird ebenso durch das Hauptverhandlungsprotokoll nachgewiesen wie der Zeitpunkt der Mitteilung der Besetzung.
Erst nachdem ihr diese Präklusion (zumindest gedanklich) ausgeschlossen habt, widmet ihr euch der Gesetzesverletzung, der Beschwer, dem Beruhen und dem Beweis.
b) Klassische Klausurfälle
(1) Eine Frage der richtigen Besetzung und gerade nicht der funktionalen Zuständigkeit (§ 338 Nr. 4 StPO) ist die richtige Besetzung der großen Strafkammer, wenn diese als Schwurgericht tätig wird. Nach § 76 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 GVG beschließt die große Strafkammer dann die Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Verhandelt die große Strafkammer innerhalb ihrer Zuständigkeit in einer schwurgerichtlichen Sache (§ 74 Abs. 2 S. 1 GVG) mit beispielsweise nur zwei anstelle von drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, so muss die Besetzung vom Angeklagten ebenfalls rechtzeitig gerügt werden, um der Präklusion den Boden zu entziehen.
(2) Wie bereits im Artikel über die verfahrensrechtlichen Gesetzesverletzungen erwähnt, müsst ihr beachten, dass Mängel in der Person des Richters von der Präklusion ausgeschlossen sind. Das bedeutet, dass sofern ihr es beispielsweise mit einem blinden, stummen oder tauben Richter oder Schöffen zu tun habt, der Verstoß gegen die ordnungsgemäße Besetzung nach § 338 Nr.1 StPO in jedem Fall – und das ist das Besondere – auch ohne Einwand von euch geprüft werden muss. Beachtet auch unbedingt, dass es sich gerade um keinen Fall des § 338 Nr. 5 StPO handelt, auch wenn durch den Mangel in der Person eine Verhandlungsunfähigkeit erreicht wird.
(3) Ein Mangel in der Person des Richters liegt auch dann vor, wenn der Vorsitzende diese Position gar nicht bekleiden dürfte. So ergibt sich beispielsweise aus § 29 Abs. 1 S. 2 GVG, dass ein Richter auf Probe im ersten Jahr nach seiner Ernennung nicht Vorsitzender des Schöffengerichts sein darf.
2. Absolute Revisionsgründe: Die Mitwirkung eines ausgeschlossenen Richters (§ 338 Nr. 2 StPO)
Wenn ihr unter Zeitdruck steht, ist dies ein Revisionsgrund, bei dem ihr am ehesten „auf Lücke setzen“ könnt. Diese Norm bietet keine allzu attraktive Prüfungsgrundlage und steht daher in ihrer Klausurrelevanz nicht sehr weit oben. Relevante Vorschriften sind §§ 22, 23, 31 I, 148a II S. 1 StPO.
3. Absolute Revisionsgründe: Die Mitwirkung eines abgelehnten Richters ( § 338 Nr. 3 StPO)
a) Grundsätzliches
Auch § 338 Nr. 3 StPO stellt eine Ausprägung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und § 16 Abs. 1 S. 2 GVG dar.
Ein Revisionsgrund nach § 338 Nr. 3 StPO liegt dann vor, wenn in der Klausur ein wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter oder Schöffe mitgewirkt hat und das Ablehnungsgesuch zu Unrecht verworfen wurde. Die Ablehnungsgründe folgen aus §§ 26a und 27 StPO.
Die Ablehnung unter Mitwirkung des Richters kann nur nach § 26a StPO – als Verwerfung der Ablehnung als unzulässig – erfolgen. Erfolgt die Verwerfung des Ablehnungsgesuchs nach Maßgabe des § 26a StPO als unzulässig – also aus formalen Gründen – so muss die Verwerfung daraufhin überprüft werden, ob die Verwerfungsgründe des § 26a Abs. 1-3 StPO rechtsfehlerfrei gehandhabt wurden.
Die Verwerfung der Ablehnung als unbegründet hingegen kann nur ohne Mitwirkung des betroffenen Richters nach § 27 Abs. 1 StPO vorgenommen werden. Wirkt dieser dennoch mit, so ist die Ablehnung als unbegründet nach neuer Rechtsprechung des BGH wegen willkürlichen Hinwegsetzens über die gesetzlich vorgeschriebene Besetzung des § 27 StPO rechtsfehlerhaft.
Verhindert werden soll mit dieser Regelung, dass der betroffene Richter sich zum Richter in eigener Sache macht, indem er sich mit den Gründen der Ablehnung seiner beanstandeten Handlung selbst auseinandersetzt. Insoweit ist unter seiner Mitwirkung ausschließlich die Ablehnung als unzulässig nach den festgeschriebenen Gründen des § 26a Abs. 1 Nr. 1-3 StPO möglich.
b) Klausurklassiker
(1) Formale Ablehnungsgründe des § 26a Abs. 1 StPO – unter Mitwirkung des abgelehnten Richters
(aa) Nr. 1 – Verspätete Ablehnung
Die Präklusion nach § 25 Abs. 1 StPO ist im Rahmen des § 338 Nr. 3 StPO ein formaler Ablehnungsgrund und damit innerhalb dessen zu prüfen. Aus § 25 Abs. 1 S. 1 StPO folgt, dass das Ablehnungsgesuch bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse zu erfolgen hat. Erfolgt die Rüge erst im Anschluss, so ist das Ablehnungsgesuch als unzulässig abzulehnen. Gegen die Verwerfung der Ablehnung als unzulässig steht dem Angeklagten nach § 28 Abs. 2 StPO die sofortige Beschwerde zu. (Meyer-Goßner § 26a StPO Rn. 3).
(bb) Nr. 2 – Gänzliches Fehlen eines Ablehnungsgrundes
Kein Richter in eigener Sache ist der Richter dann, wenn er prozessordnungsgemäß an einer Vorentscheidung mitgewirkt hat. Bsp.: Eine vorherige Vernehmung als Ermittlungsrichter während einer U-Haft (Meyer-Goßner § 26a StPO Rn. 4-4b). Oder der Richter unterließ schon früher einen Beschluss nach § 111a StPO.
(cc) Nr. 3 – Verschleppungsabsicht
Verschleppungsabsicht ist dann anzunehmen, wenn der Antragsteller ausschließlich eine Verzögerung der Hauptverhandlung bezweckt, was ohne Nachforschungen feststellbar, also offensichtlich sein muss. In der Klausur wird es insoweit in erster Linie um das Merkmal der Offensichtlichkeit gehen.
Ein Austausch der Verwerfungsgründe innerhalb des § 26a Abs. 1 Nr. 1-3 StPO ist möglich.
(2) Weitere Hinweise
Für alles Weitere empfiehlt es sich gründlich die Kommentierungen zu § 24 – 27 StPO zu lesen.
Jura Individuell-Tipp: Ebenfalls keine gesetzliche Grundlage findet sich für die Ablehnung eines Staatsanwalts. Weitere Hinweise dazu findet ihr im Meyer-Goßner vor § 22 Rn. 3, 6 und 7.
4. Absolute Revisionsgründe: Unzuständigkeit des Gerichts (§ 338 Nr. 4 StPO)
a) Grundsätzliches
In Abgrenzung zu § 6a StPO, der bei den Verfahrensvoraussetzungen im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit zu prüfen war (siehe Leitfaden I), umfasst § 338 Nr. 4 StPO lediglich die örtliche Zuständigkeit sowie die Zuständigkeit der in § 74e GVG genannten besonderen Strafkammern (Schwurgericht, Wirtschaftsstrafkammer und Staatsschutzkammer).
Nach Eröffnung des Hauptverfahrens findet eine Prüfung der Zuständigkeit im Sinne des § 338 Nr. 4 StPO nur auf einen Einwand hin statt. Die Rüge muss der Angeklagte bis zur eigenen Vernehmung zur Sache in der Hauptverhandlung geltend machen, §§ 6a S. 3, 16 S. 3 StPO. Danach ist er mit seinem Einwand hinsichtlich der Unzuständigkeit i. S. d. § 338 Nr. 4 StPO präkludiert.
b) Klausurfälle
(1) Verurteilt eine große Strafkammer (Az: Kls) den Angeklagten wegen einer Tat, die in den Zuständigkeitsbereich des Schwurgerichts (Az: Ks) nach § 74 Abs. 2 GVG fällt und rügt der Angeklagte dies nicht bis zu seiner Vernehmung zur Sache, so ist er mit seinem Einwand präkludiert. Dass die Rüge nicht rechtzeitig erhoben worden ist, ergibt sich dann aus der negativen Beweiskraft des Protokolls.
Wichtig ist, dass ihr an dieser Stelle die Kommentierung des Meyer-Goßner zu § 6a S. 3 StPO Rn. 1 kennt. Aus der Kommentierung ergibt sich nämlich, dass der Angeklagte auch dann präkludiert ist, wenn sich Anhaltspunkte für eine Straftat nach § 74 Abs. 2 StPO erst im Laufe der Beweisaufnahme – also nach dem Präklusionszeitpunkt ergeben. Damit wird dem Angeklagten die faktische Rügeoption hier genommen. Dies wird aber im Hinblick auf den Zweck des § 6a StPO für angemessen erachtet, da es zu verhindern gilt, eine Strafsache im laufenden Hauptsacheverfahren zu verweisen.
(2) Das Jugendgericht gilt grundsätzlich als „gleichrangiges Gericht“ – also gerade kein Gericht höherer oder niederer Ordnung, sondern als spezielles Gericht mit Sonderwissen. Merkt euch, dass das Jugendgericht unter § 338 Nr. 4 StPO und gerade nicht unter § 338 Nr. 1 StPO fällt. § 47a JGG begründet eine zu § 269 StPO vergleichbare Zuständigkeit des Jugendgerichts. Allerdings liegt auch hier die Grenze in der Willkür. Sofern es möglicherweise auf die Sachkunde und die Erfahrung des Jugendschutzgerichts ankam, ist die Zweckmäßigkeit der dortigen Verhandlung nicht völlig haltlos (§ 26 Abs. 2 S. 2 GVG – und dazu Meyer-Goßner § 26 GVG Rn. 4).
5. Absolute Revisionsgründe: Vorschriftswidrige Abwesenheit von Verfahrensbeteiligten (§ 338 Nr. 5 StPO)
a) Grundsätzliches
Ein weiterer absoluter Revisionsgrund kann in der Abwesenheit einer Person liegen, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt. § 338 Nr. 5 StPO ist dabei einer der in der Praxis (und auch den Klausuren!) bedeutsamsten absoluten Revisionsgründe. Auch wenn neben dem Staatsanwalt auch Urkundspersonen und Dolmetscher im Fall des § 185 GVG erfasst sein können, dreht sich die Klausur meist um die Abwesenheit eines notwendigen Verteidigers oder des Angeklagten. Allerdings ist die Abwesenheit nur dann revisibel, wenn die entsprechende Person bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandung abwesend war.
Hinsichtlich der Wesentlichkeit lasst euch auf keine Spekulationen ein, sondern schaut schlicht in die Auflistung im Meyer-Goßner ( § 338 Rn. 37 f.), ob es sich um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handelt oder eben nicht. Wissen solltet ihr, dass die Vernehmung eines Zeugen zur Person als wesentlich erachtet wird, da sie den Beteiligten eine verlässliche Grundlage für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit schafft. Dies findet ihr im Meyer-Goßner § 68 Rn. 1 StPO kommentiert. Folglich müssen die gesetzlich vorgeschriebenen Personen hierbei zugegen sein.
b) Abwesenheit des Angeklagten
Grundsätzlich findet gemäß § 230 Abs. 1 StPO die Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht statt. Die vorgeschriebene Gegenwart umfasst neben der körperlichen Gegenwart auch die Verhandlungsfähigkeit. Teilweise wird in Klausuren die Verhandlungsfähigkeit in Frage gestellt, weil dem Angeklagten eine Konzentrationsschwäche attestiert wurde und angeblich mehrere Stunden durchverhandelt wurde. Insoweit könnt ihr, wie bereits oben erwähnt, den Meyer-Goßner (273 Rn. 8 StPO) zu Hilfe nehmen und nachlesen, dass es sich bei der Durchführung der Sitzungspausen um keine wesentliche Förmlichkeit handelt. Damit ist der Weg zum Freibeweis eröffnet. Oft werdet ihr in der Klausur insoweit eine dienstliche Äußerung finden, anhand derer ihr den Sachverhalt klären und damit beweisen könnt.
Häufig werden aber gerade die Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht des § 230 Abs. 1 StPO in die Klausur eingebaut. Insbesondere relevant sind hier die §§ 231 Abs. 2, 231b Abs. 1 und § 247 StPO, die im Nachfolgenden als Rechtfertigungsgründe für die Abwesenheit bezeichnet werden.
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Eigenmächtiges Entfernen
Gemäß § 231 Abs. 2 StPO kann die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten zu Ende geführt werden, wenn dieser sich entfernt hat oder nach einer Unterbrechung ausbleibt, sofern er bereits über die Anklage vernommen wurde und das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für erforderlich hält. Die Rechtsprechung verlangt hier insoweit ein eigenmächtiges Entfernen; dieses ist anzunehmen, wenn der Angeklagte seiner Anwesenheitspflicht ohne Rechtfertigungsgrund wissentlich nicht genügte, wobei die Eigenmächtigkeit dem Angeklagten nachgewiesen werden muss (Meyer-Goßner § 231 Rn. 10-12 f). Insoweit ist der Freibeweis zulässig.
Beschließt das Gericht in Abwesenheit des Angeklagten weiter zu verhandeln, weil es von der Eigenmächtigkeit seiner Entfernung überzeugt ist, ist ein vorheriger Beschluss diesbezüglich nicht nötig (Meyer-Goßner § 231 Rn. 22 StPO). Ein Indiz für die Eigenmächtigkeit stellt ein Ausbleiben nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung dann dar, wenn das Gericht den Angeklagten zuvor auf die möglichen Folgen des Fernbleibens hingewiesen hat.
Versetzen in einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand
Dem eigenmächtigen Ausbleiben gleichgestellt wird es, wenn sich der Angeklagte in einen die Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand – wie beispielsweise durch Intoxikation, aber auch durch einen Selbstmordversuch – versetzt. Auch in diesem Fall kann das Gericht das Urteil ohne Anwesenheit des Angeklagten verkünden; dies gilt jedenfalls dann, wenn dieser zumindest über die Anklage vernommen wurde, § 231 Abs. 2 StPO.
Unwohlsein
Entfernt sich ein Angeklagter aus Unwohlsein, so ist zu prüfen, ob sich dieser wissentlich in einen krankhaften Zustand – beispielsweise der Erregung – gesteigert hat (Meyer-Goßner § 231 Rn. 17). Das ist auszuschließen, wenn die beschriebenen Symptome plausible und nahe liegende Folgen emotionaler Belastung darstellen, wie beispielsweise bei einer Mutter, die wegen der fahrlässigen Tötung ihrer Tochter vor Gericht steht und den Saal verlässt, während der Sachverständige im Einzelnen zu den tödlichen Kopfverletzungen befragt wird.
Beachtet auch Folgendes: Erscheint ein Angeklagter bei einem Fortsetzungstermin nach einer Unterbrechung im Sinne des § 229 StPO nicht, so ist darauf zu achten, dass zu diesem Termin gerade keine förmliche Ladung erforderlich war; vielmehr genügt die mündliche Bekanntmachung des Termins vor der Unterbrechung (Meyer-Goßner § 229, Rn. 12 StPO). Der Angeklagte gilt damit – auch ohne förmliche Ladung – als ordnungsgemäß geladen, sofern der Fortsetzungstermin im vergangenen Termin mündlich bekannt gegeben wurde.
bb) Rechtfertigungsgrund des § 231b Abs. 1 StPO
Als weiterer Rechtfertigungsgrund für die Abwesenheit des Angeklagten kann euch § 231b Abs. 1 StPO begegnen.
Das Gericht kann auch dann in Abwesenheit des Angeklagten verhandeln, wenn diesem bereits Gelegenheit zur Äußerung zur Anklage gegeben wurde, er sodann wegen ordnungswidrigen Benehmens (§ 177 GVG) aus dem Sitzungszimmer entfernt oder zur Haft abgeführt wurde und das Gericht seine weitere Anwesenheit nicht für unerlässlich hält. Dies gilt jedoch nur, solange (!) zu befürchten ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten den Ablauf der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise beeinträchtigen würde.
(1)
Das Gericht entscheidet über die Entfernung grundsätzlich im Beschlusswege, § 177 S. 2 GVG a.E. Der Beschluss wird nach § 182 GVG protokolliert.
Regelmäßig ist der Gerichtsbeschluss daraufhin zu überprüfen, ob ein ordnungswidriges Benehmen des Angeklagten vorlag. Grundsätzlich ist hierfür die Begründung des Gerichts heranzuziehen. Fehlt dem Beschluss aber die Begründung – wie im häufigen Klausurfall – so führt dieser Mangel nicht notwendig zur Aufhebung, wenn aufgrund des Protokollvermerks über seine Veranlassung davon auszugehen ist, dass die Gründe für den Betroffenen außer Zweifel standen und wenn der Protokollvermerk dem Beschwerdegericht die volle Nachprüfung ermöglicht (Meyer-Goßner § 12 GVG, Rn. 4).
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich aus dem Protokollvermerk wiederholte Ermahnungen des Vorsitzenden aufgrund von beleidigenden Zwischenrufen ergeben. Eine schlichte Anordnung des Vorsitzenden ersetzt den Beschluss hingegen nicht.
(2)
Wurde zwar der – keinesfalls entbehrliche – Beschluss über die Entfernung nach § 177 StPO gefasst, findet sich aber in der Akte kein Beschluss über die Entscheidung der Weiterverhandlung im Sinne des § 231b StPO, solltet ihr darauf abstellen, dass nach § 231b StPO im Gegensatz zu § 231a StPO das Gesetz den Beschluss nicht ausdrücklich vorschreibt. Der Beschluss ist immer dann entbehrlich, wenn das Gericht durch Fortsetzung der Hauptverhandlung – wohlgemerkt nach Erlass des Beschlusses nach §177 GVG – und der Entfernung des Angeklagten durch sein Vorgehen ausreichend deutlich gemacht hat, dass es für die weitere Hauptverhandlung die Anwesenheit des Angeklagten nicht für unerlässlich hält (Meyer-Goßner, § 231b Rn. 9 StPO).
Jura Individuell-Tipp: Haltet die beiden Beschlüsse unbedingt auseinander und merkt euch, dass lediglich der Beschluss nach § 231b StPO (2), nicht aber der Beschluss über die Entfernung nach § 177 GVG (1), entbehrlich ist.
Zu beachten ist, dass der zurückgekehrte Angeklagte nach § 231b Abs. 2 StPO i. V. m. § 231a Abs. 2 StPO vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten ist, was in seiner Abwesenheit berichtet wurde.
cc) Rechtfertigungsgrund des § 247 StPO
Die Abwesenheit des Angeklagten ist auch dann unschädlich, wenn ihn das Gericht im Interesse der Sachaufklärung oder des Zeugenschutzes oder gar in seinem eigenen Interesse entfernt hat.
(1)
In der Klausur kommt es gar nicht so sehr auf die inhaltlichen Voraussetzungen des § 247 StPO an. So kann es häufig dahinstehen, ob die Vernehmung eines Zeugen in Anwesenheit des Angeklagten einen erheblichen Nachteil für das Wohl des Zeugen im Sinne des § 247 S. 2 StPO verursacht hätte, da die Entscheidung formell rechtsfehlerhaft gefasst wurde. Der vorübergehende Ausschluss darf nicht durch alleinige Anordnung des Vorsitzenden erfolgen, sondern muss im Beschlusswege erfolgen. Aus dem Beschluss muss hervorgehen, für welchen Teil der Hauptverhandlung der Angeklagte sich entfernen musste und welchen Fall des § 247 StPO das Gericht angenommen hat (Meyer-Goßner, § 247 StPO Rn. 14). Fehlt dieser Beschluss, kann das Revisionsgericht auch anhand anderer Quellen nicht nachprüfen, ob das Tatgericht von zulässigen Erwägungen geleitet war.
Insofern ist der Ausschluss des Angeklagten auch dann rechtsfehlerhaft und revisibel, wenn der Beschluss nicht begründet wurde. Die Anforderungen des § 247 StPO sind insoweit wesentlich strenger als die des § 231b StPO. Dies folgt aus Art. 103 S. 1 GG und dem darin verankerten Recht auf Teilhabe an der Hauptverhandlung im Hinblick auf die Wahrheitsfindung und den Schutz des Angeklagten. Dieses Recht ist unverzichtbar, was zur Folge hat, dass auch mit Einverständnis des Angeklagten nicht von der Pflicht zur Beschlussfassung und -begründung abgesehen werden kann.
(2)
Sofern die Beschlussfassung ordnungsgemäß war, kann es im Einzelnen auf die einzelnen Varianten des § 247 StPO ankommen.
(aa) § 247 S. 1 StPO regelt zunächst die Entfernung des Angeklagten im Falle der konkreten Gefahr für die Wahrheitsfindung. Diese liegt vor, wenn zu deren Abwendung die zeitweise Entfernung des Angeklagten unabwendbar erscheint. Das ist der Fall, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge oder Mitangeklagter bei der Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit aussagt – wobei ein bloßer Wunsch des Zeugen oder Mitangeklagten hier nicht ausreicht. Stützt euch in der Klausur darauf, was der Zeuge zu seinen Motiven „glaubhaft bekundet“ hat. Anerkannt ist ein Ausschluss, wenn der Zeuge droht, sonst von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen; Gleiches gilt, wenn der Zeuge mit der Geltendmachung seines nur auf einzelne Fragen bezogenen Auskunftsverweigerungsrechts droht, sein Auskunftsverweigerungsrecht ihn aber – wegen vollständiger eigener Verwicklung – dazu berechtigt, die Aussage in vollem Umfang zu verweigern.
(bb) § 247 S. 2 StPO regelt hingegen insbesondere die Entfernung des Angeklagten bei dringender Gefahr eines schwerwiegenden Gesundheitsnachteils bei der Vernehmung eines erwachsenen Zeugen. Hier genügt ein drohender nur vorübergehender Gesundheitsnachteil – aber er muss die hohe Wahrscheinlichkeit haben, schwerwiegend zu sein und die Prognose muss auf tatsächliche Umstände gestützt werden. Die Definition solltet ihr – wie auch sonst – dem Meyer-Goßner entnehmen (§ 247 Rn. 12). Im Anschluss müsst ihr anhand der Akte herausarbeiten, welche Ängste/Beeinträchtigungen das Opfer angibt und auf welche Umstände es dies stützt und ob diese über geringfügige Beeinträchtigungen des Wohlbefindens hinausgehen. Wenn dies nicht der Fall ist und der Angeklagte dennoch während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung abwesend war, so liegt darin der absoluter Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vor.
Achtung!
Wichtig ist, dass sich die gerechtfertigte Abwesenheit des Angeklagten nur auf die Vernehmung des Zeugen/Mitangeklagten erstreckt. Das heißt, dass insbesondere weitere Zeugen nicht vernommen, Urkunden nicht verlesen und die Inaugenscheinnahme nicht erfolgen kann. Erfolgen diese Akte doch, sind sie in Anwesenheit des Angeklagten zu wiederholen. Besonders darauf hinzuweisen ist, dass die Ausübung des Fragerechts des Angeklagten nicht durch dessen Abwesenheit unterbunden werden darf. Dem Fragerecht kommt insofern eine selbständige verfahrensrechtliche Bedeutung zu und ist dem Angeklagten zuzugestehen, bevor der jeweilige Zeuge entlassen wird. Wird ihm das Fragerecht nicht eingeräumt oder war der Zeuge bereits entlassen, liegt ein Verstoß gegen § 230 Abs. 1 StPO vor.
Abzustellen ist insoweit immer auf die verfahrensrechtlich selbständige Bedeutung eines Vorgangs. Eine solche kommt beispielsweise auch der Ablehnung eines Befangenheitsantrags gegen einen Zeugen zu. Jedoch ist ein solcher gesetzlich nicht vorgesehen, weswegen – ausnahmsweise – ein Beruhen denkgesetzlich ausgeschlossen ist.
Jura Individuell-Hinweis: Im Zusammenhang mit dem absoluten Revisionsgrund der Abwesenheit des Angeklagten ist auch der relative Revisionsgrund des § 247 S. 4 StPO zu sehen. Nach § 247 S. 4 StPO hat der Vorsitzende, sobald der Angeklagte wieder anwesend ist, diesen von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit verhandelt oder ausgesagt worden ist. Bei der Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO handelt es sich um eine wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 273 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner § 247 Rn. 17), die im Rahmen des § 274 S. 1 StPO durch das Schweigen des Protokolls bewiesen ist.
Der Verstoß gegen § 247 S. 4 StPO stellt einen relativen Revisionsgrund dar, da es nicht mehr unmittelbar um die Abwesenheit des Angeklagten geht. Er wird aber laufend in Klausuren im Zusammenhang mit der Abwesenheit des Angeklagten abgefragt, sodass ihr diese beiden Revisionsgründe als Zwillings-Duo vor Augen haben solltet. Bei dem Verstoß gegen § 247 S. 4 StPO ist wegen seines relativen Charakters immer das Beruhen des Urteils auf der Gesetzesverletzung festzustellen. Hier genügt der Hinweis, dass sich der Angeklagte wegen des Wissensdefizits nicht sachgerecht verteidigen konnte.
c) Abwesenheit des notwendigen Verteidigers
Sofern der Angeklagte aufgrund der Voraussetzungen des § 140 StPO (§ 68 JGG) eines notwendigen Verteidigers bedarf, so wirkt sich dessen Abwesenheit während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung revisionsrechtlich ebenfalls aus.
Denkbar ist hier, dass das Gericht es versäumt hat, dem unverteidigten Angeklagten trotz der von vornherein vorliegenden Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO einen Pflichtverteidiger beizuordnen (§ 141 Abs. 1, 2 StPO) oder dass es trotz sich während des Verfahrens ergebender notwendiger Verteidigung ohne Bestellung eines Pflichtverteidigers schlicht weiterverhandelt hat (§ 141 Abs. 2 StPO). Auch denkbar ist, dass das Gericht weiterverhandelte, obwohl der bestellte Verteidiger in der Hauptverhandlung ausgeblieben ist, sich entfernt hat oder sich der Verteidigung verweigert (§ 145 Abs. 1 S. 1 StPO). Ob und wann der notwendige Verteidiger fehlte, ist anhand des Hauptverhandlungsprotokolls beweisbar, § 274 S. 1 StPO.
Stets vollständig durchprüfen solltet Ihr die Varianten des § 140 Abs. 1 und 2 StPO. In der Klausur sind meist mehrere Varianten erfüllt und auch zu nennen. Unproblematisch sind die Varianten des § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 StPO, in denen dem Angeklagten dann ein Verteidiger beizuordnen ist, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht stattfindet oder gegen den Angeklagten die Untersuchungshaft vollstreckt wird. Sicher beherrscht werden sollten die Nuancen folgender Varianten:
aa) § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO – „zur Last gelegtes Verbrechen“
Wichtig ist, genau zu definieren, wann dem Angeklagten ein Verbrechen „zur Last gelegt“ wird, da hier der Schlüssel zur richtigen Lösung liegt. „Zur Last gelegt“ wird ihm ein Verbrechen im Sinne dieser Vorschrift nur, wenn die Tat entweder in der Anklage, dem Eröffnungsbeschluss, einer Nachtragsanklage oder einem rechtlichen Hinweis als Verbrechen gewertet wurde. Diese Betrachtungsweise nennt man „die formalisierte zur Last-Legung“ (Meyer-Goßner § 140 Rn. 12 StPO). Hierin unterscheidet sich die Beurteilung von der, die ihr der sachlichen Zuständigkeit zugrunde gelegt habt. Dort schaut ihr nämlich danach, welche Straftat – Vergehen oder Verbrechen – die Urteilsfeststellungen tragen, weswegen ausschließlich dort ein Verweis auf die Sachrüge und damit den Prüfungspunkt des materiellen Rechts zulässig ist.
Häufig ergibt eure sachlich-rechtliche Überprüfung der Urteilsfeststellungen, dass ein Verbrechen vorliegt, welches das Tatgericht gerade nicht gesehen hat. Insoweit müsst ihr erkennen, dass formalisiert dem Angeklagten dennoch gerade kein Verbrechen „zur Last gelegt wurde“, weil nämlich keines angeklagt war und die Tat weder im Eröffnungsbeschluss, noch im Wege der Nachtragsanklage oder mittels eines rechtlichen Hinweises als solches bewertet wurde. Damit liegt dann auch kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vor. Dieser Klausurfall kommt regelmäßig vor.
bb) § 140 Abs. 2 S. 1, 1. Var. StPO – „Schwere der Tat“
Die Verteidigung ist auch notwendig, wenn es nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO die „Schwere der Tat“ gebietet. Hier ist auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung abzustellen, wobei sich in der Praxis die Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel als Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers eingependelt hat. Dies gilt auch dann, wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder die Strafhöhe erst durch Bildung einer Gesamtstrafe erzielt wird (Meyer-Goßner § 140 StPO Rn. 23).
Zur Beurteilung der Schwere der Tat sind auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die dem Angeklagten infolge der Verurteilung entstehen, heranzuziehen. Darunter fällt auch die klausurträchtige Option des Bewährungswiderrufs in einem anderen Verfahren wegen der neuen Verurteilung. Häufig sind die Prüflinge von diesem Begriff allein eingeschüchtert. Doch bei Lichte betrachtet ist der zu erwartende Bewährungswiderruf auch kein Mirakel. Insoweit müsst ihr die Vorstrafenliste genau unter die Lupe nehmen. Diese findet ihr im Hauptverhandlungsprotokoll oder aber in den schriftlichen Urteilsgründen.
Der Widerruf einer sich daraus ergebenden Strafaussetzung droht insbesondere nach § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begeht und dadurch zeigt, dass er die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat. Nach § 56 Abs. 2 StGB beginnt die Bewährungszeit erst mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung. In der Vorstrafenliste gilt es also den Zeitpunkt der Rechtskraft herauszufinden (Beginn der Bewährungszeit) und anhand dessen das Ende der Bewährungszeit zu errechnen. Hat der Angeklagte die durch das angefochtene Urteil abgeurteilte Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen, so greift § 56f Abs. 1 S. 2 StGB, der ebenfalls den Widerruf zur Aussetzung der Strafe zur Bewährung anordnet.
cc) § 140 Abs. 2 S. 1, 2. Var. StPO – „Schwierigkeit der Rechtslage“
Bei der Frage, ob eine Schwierigkeit der Rechtslage anzunehmen ist, solltet ihr im Kommentar schauen, ob eine ungeklärte Rechtsfrage Anlass zur höchstrichterlichen Klärung gebietet. Ist eine Rechtsfrage, meist eine solche des materiellen Rechts (die bei der Sachrüge geprüft wird) wie beispielsweise, ob die Bandeneigenschaft zu bejahen ist, höchstrichterlich geklärt, so ist auch keine Schwierigkeit der Rechtslage anzunehmen und damit auch keine Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 S. 1 2. Var. StPO notwendig. In der Klausur wird es sich meist um höchstrichterlich geklärte Rechtsfragen handeln, sodass eine Schwierigkeit der Rechtslage in der Regel abzulehnen sein wird.
dd) § 140 Abs. 2 S. 1, 3. Var. StPO – „Unfähigkeit sich selbst zu verteidigen“
Die Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, ist insbesondere bei ausländischen Angeklagten aufzuwerfen. In der Regel können Verständigungsschwierigkeiten aber allein durch Hinzuziehung eines Dolmetschers behoben werden und nicht durch die Beiordnung eines Verteidigers. Nur wenn eine schwierige Sach- und Rechtslage hinzukommt, ist ein Verteidiger notwendig. Dann liegt aber bereits ein Fall des § 140 Abs. 2 S. 1 2. Var. StPO vor, sodass der Anwendungsbereich der 3. Var. relativ gering ist.
Seid auch dahingehend sensibilisiert, dass ein notwendiger Verteidiger, der als Zeuge vernommen wird, nicht zugleich seine Funktion als Verteidiger wahrnehmen kann und somit – wiederum in Folge des „fair-trial-Grundsatzes“ – als abwesend gilt. Das bedeutet, dass dem Angeklagten für die Zeit der Vernehmung ein anderer Verteidiger hätte beigeordnet werden müssen. Die Anwesenheit während der Zeugenvernehmung betrifft einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung und ist auch auf die Zeugenvernehmung aller anderer Prozessbeteiligter übertragbar, die gesetzlich zur Anwesenheit verpflichtet sind.
Jura Individuell-Hinweis: Zuletzt hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Auswirkungen des Fehlens eines nicht nach § 140 StPO notwendigen Verteidigers (sog. Wahlverteidiger). Lest hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, 58. Auflage, 2015, § 228 Rn. 10-12.
6. Absolute Revisionsgründe: Ungesetzliche Beschränkung der Öffentlichkeit (§ 338 Nr. 6 StPO)
a) Grundsätze
§ 338 Nr. 6 StPO findet Anwendung, wenn das Gericht oder der Vorsitzende durch fehlerhafte Annahme eines Ausschlussgrundes (§§ 169 S. 1, 171a – 173, 175, 177 GVG) oder durch Nichtbeachtung des Verfahrens für die Ausschließung (§ 174 GVG) eine die Öffentlichkeit beschränkende unzulässige Anordnung getroffen oder eine ihm bekannte Beschränkung nicht beseitigt haben.
Jura Individuell-Hinweis: Es empfiehlt sich hier besonders mit dem Meyer-Goßner/Schmitt zu arbeiten. Schaut hierzu in § 338 Rn. 45 – 50b StPO und bei §§ 169 ff. GVG, vor allem auch in der Kommentierung zu § 174 GVG nach. Mit Hilfe des Kommentars gelingt es die Klausurprobleme aufzuschlüsseln.
§ 169 S. 1 GVG
§ 169 S. 1 GVG ordnet die öffentliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht an. Die entsprechende Definition könnt ihr dem Meyer-Goßner unter § 169 GVG Rn. 3 entnehmen. Völlig klar ist, dass nicht alle Menschen Platz in einem Gerichtssaal finden, gerade wenn der Ansturm bei einem öffentlich-bedeutsamen Prozess recht hoch sein kann. Die Antwort der Rechtsprechung auf dieses Problem lautet: Zur Wahrung der Öffentlichkeit ist erforderlich, dass im Sitzungssaal Zuhörer in einer Anzahl Platz finden, die sie als Repräsentanten einer keiner besonderen Auswahl unterliegenden Öffentlichkeit erscheinen lässt (Meyer-Goßner § 169 GVG Rn. 4). Das bedeutet, dass ein einziger Sitzplatz definitiv zu wenig ist.
Wichtig ist zudem ein Aushang bzw. eine Tafel, dem die Öffentlichkeit den Verhandlungstermin und den Saal bzw. die Örtlichkeit eines Ortstermins entnehmen kann; ein bloßes Erfragen bei der Geschäftsstelle genügt dem Öffentlichkeitsgrundsatz nicht. Auch trotz eines Berichtigens der Uhrzeit kann die Öffentlichkeit bereits unzulässig ausgeschlossen worden sein, da sich möglicherweise einzelne Besucher bereits haben abhalten lassen (Meyer-Goßner § 338 StPO Rn. 50a).
Zum Ausschluss der Öffentlichkeit ist nach § 174 StPO stets ein Gerichtsbeschluss notwendig. Über die Ausschließung ist nach § 174 Abs. 1 GVG in nichtöffentlicher Sitzung zu verhandeln, wenn ein Beteiligter es beantragt oder das Gericht es für notwendig erachtet. Der Beschluss muss öffentlich verkündet werden.
b) Kompendium trickreicher Verstöße
(1)
Zu einer – auch zwangsweisen – Entfernung eines Zuhörers aus dem Sitzungssaal ist etwas versteckt im Meyer-Goßner/Schmitt eine Kommentierung bei § 58 StPO Rn. 5 zu finden. Insofern stellt auch hier die Euch bekannte Willkür die Grenze des Möglichen dar.
(2)
Ein faktischer, unzulässiger Ausschluss der Öffentlichkeit liegt auch dann vor, wenn der Vorsitzende die Zuschauer lediglich bittet, den Sitzungssaal zu verlassen, damit die Zeugin, die sonst die Aussage verweigert, aussagt. Auch wenn die Zeugen den Saal auf Bitte des Vorsitzenden und so letztlich freiwillig verlassen, nimmt die Rechtsprechung einen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz an. Der Vorsitzende darf eine solche Bitte nicht an alle Zuhörer, sondern nur an Einzelne richten. Aufgrund der hoheitlichen Autorität des Gerichts wird angenommen, dass dieses einen hohen psychischen Druck auf jeden Einzelnen ausübt, sodass der Angesprochene auf den möglichen Verbleib im Sitzungssaal verzichtet. Faktisch entsteht damit ein Zwang zum Verlassen des Gerichtssaals, der dem förmlichen Ausschluss der Öffentlichkeit vergleichbar ist (Meyer-Goßner § 338 StPO Rn. 48).
(3)
Wird eine Kopftuchträgerin seitens des Vorsitzenden aufgefordert, das Kopftuch abzunehmen oder den Saal zu verlassen und sie entscheidet sich für Letzteres, so liegt ein Verstoß in doppelter Hinsicht vor. Zum einen ist die Öffentlichkeit schon unzulässig beschränkt, weil kein Gerichtsbeschluss ergangen ist (vgl. Meyer-Goßner § 338 StPO Rn. 48). Zudem war die Entscheidung, den Saal zu verlassen, nicht als freiwillig, sondern vielmehr als unfreiwillige Beugung unter die Autorität des Gerichts zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen auch eine Störung der Hauptverhandlung durch das Tragen eines Kopftuchs i. S. v. § 177 GVG im Hinblick auf die Religionsfreiheit ausgeschlossen.
(4)
Stört eine Person die Hauptverhandlung, so kann, sofern es sich dabei um einen nicht am Prozess Beteiligten handelt, der Vorsitzende, sofern es sich um einen Prozessbeteiligten handelt, das Gericht, durch Gerichtsbeschluss diese Person von der Hauptverhandlung ausschließen. Allerdings muss im ersten Fall immer eine zur Aufrechterhaltung der Ordnung ergangene Anordnung des Vorsitzenden vorausgehen, um einen Repräsentanten der Öffentlichkeit aus dem Sitzungssaal zu entfernen, was § 177 S. 1 GVG zu entnehmen ist (Meyer-Goßner § 338 StPO Rn. 48).
c) Verschulden des Gerichts
Der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz ist nur dann revisibel, wenn er auf einem Verschulden des Gerichts beruht. Entscheidend ist allein, dass das Gericht den Verstoß hätte bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt vermeiden können. Insoweit kommt dem Gericht auch eine Aufsichtspflicht gegenüber untergeordneten Beamten zu. Allerdings dürfen die gerichtlichen Aufsichtspflichten nicht überspannt werden (Meyer-Goßner, § 338 Rn. 49 f.). Denn grundsätzlich darf sich das Gericht auf die ordnungsgemäße Dienstausübung untergeordneter Beamter verlassen, was bedeutet, dass es ohne Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten nicht jeden Aushang kontrollieren muss.
Entscheidend ist, ob der Vorsitzende eine Anordnung getroffen hat. So hat der Vorsitzende seinen Pflichten genügt, wenn er beispielsweise angeordnet hat, dass die Haupttür auch nach Geschäftsschluss nicht zu verschließen ist, da noch eine Verhandlung stattfindet, diese Anordnung aber missachtet wird. Vor diesem Hintergrund ist das Verschulden der Wachtmeisterei gerade nicht dem Gericht zuzurechnen.
d) Grenzen des Öffentlichkeitsgrundsatzes
Der Öffentlichkeitsgrundsatz findet seine Grenzen in den Grundrechten anderer sowie im Rahmen des Machbaren.
Pflicht zur Öffentlichkeit besteht beispielsweise nicht mehr, wenn die Inaugenscheinnahme im Rahmen eines Ortstermins in einer Privatwohnung verlagert wird und die dort lebenden Opfer der Öffentlichkeit keinen Zutritt gestatten wollen. Öffentlichkeit kann aufgrund des Schutzzweckes des Art. 13 GG nur dort gewährt werden, wo auch Öffentlichkeit möglich ist. Hiervon ist eine Privatwohnung deutlich ausgeschlossen, da insbesondere auch keine strafprozessuale Eingriffsgrundlage im Hinblick auf Art. 13 Abs. 7 GG existiert. Da die Öffentlichkeit in einem solchen Fall bereits aufgrund von Art. 13 GG verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist, bedarf es zu ihrem Ausschluss auch keines Gerichtsbeschlusses nach § 174 Abs. 1 S. 2 GVG (Meyer-Goßner § 338 Rn. 48 StPO).
Jura Individuell-Hinweis: Ein Verzicht des Angeklagten auf seine durch § 338 Nr. 1-6 StPO gesicherten Rechte ist im Hinblick auf das rechtsstaatliche Interesse an einem ordnungsgemäßen Verfahren stets ausgeschlossen, da dem Angeklagten im Hinblick auf einen fairen Prozess eine Waffengleichheit zuzugestehen ist.
7. Absolute Revisionsgründe: Verspätete oder fehlende Urteilsbegründung (§ 338 Nr. 7 StPO)
Ein Urteil ist nach § 338 Nr. 7 StPO als stets auf einer Verletzung des Gesetzes anzusehen, wenn es keine Gründe enthält oder – wie meist in der Klausur – diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 S. 2 und S. 4 StPO ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind. Die gute Nachricht: Die Problembereiche dieses absoluten Revisionsgrundes könnt ihr durch aufmerksames Lesen der entsprechenden Kommentierung des Meyer-Goßner vollständig lösen.
Jura Individuell-Hinweis: Die Einzelprobleme stehen hier im Kommentar. Belastet daher euer Gedächtnis nicht mit unnötigem Einzelwissen!
8. Absolute Revisionsgründe: Unzulässige Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO)
Bei der Vorschrift des § 338 Nr. 8 StPO handelt es sich mehr um eine Auffangnorm, die in ihrer gesetzlichen Ausprägung mehr an einen relativen Revisionsgrund erinnert. Dies ergibt sich daraus, dass § 338 Nr. 8 StPO im Vergleich zu § 337 StPO keine Erweiterung bringt. Vielmehr sind bei § 338 Nr. 8 StPO in der Regel konkrete Normen heranzuziehen, was eigentlich den Bereich des § 337 StPO betrifft (Beruhensprüfung).
Bei § 338 Nr. 8 StPO kommt in erster Linie ein Verstoß gegen allgemeine Verfahrensgrundsätze in Bezug auf das Recht der Verteidigung („fair trial“, allgemeien Fürsorgepflicht) in Betracht.
Jura Individuell- Tipp: Ein wichtiger neuer und daher examensrelevanter Fall des § 338 Nr. 8 StPO betrifft das Problem des sog. „unvorbereiteten Ersatz-Pflichtverteidigers“ nach BGH, Urteil vom 20.06.2013 (zu finden in NStZ 2014, 45). Siehe hierzu Meyer Goßner/Schmitt, § 145 Rn. 9, 13; 265, Rn. 42 a, 43; 338 Rn. 58 ff StPO.
Weiter geht’s mit den relativen Revisionsgründen, diese sind in „Die Revision-Teil 4“ zu finden.
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