Die Bürgschaft als Verbrauchergeschäft
Die Bürgschaft als Vertrag im Sinne des § 312 I BGB; richtlinienkonforme Auslegung des § 312 I BGB; Nichtigkeit der Bürgschaft; Formzweck des § 766 BGB
Viele Klausurbearbeiter haben nach wie vor Schwierigkeiten mit der Einordnung der Bürgschaft als Verbrauchervertrag. Aus diesem Grunde folgender Fall zur Verdeutlichung der Problematik.
Fall zur Bürgschaft
Die inzwischen volljährige Tochter T des A hat die Mechanikerlehre abgebrochen. Seine Frau F findet als Kosmetikerin keinen Arbeitsplatz und ist deswegen Hausfrau. A will ein eigenes kleines Elektrogeschäft aufbauen, um den Unterhalt für die Familie sicherstellen zu können. Dafür benötigt er einen Kredit von seiner Bank B in Höhe von 40.000 Euro. B gewährt den Kredit nur gegen eine Bürgschaft von T und F, um Vermögensübergänge des A an seine Familienangehörigen zu verhindern. Für den Abschluss des Bürgschaftsvertrags besucht ein Bankangestellter die T in ihrer eigenen Wohnung und erklärt ihr, sie solle unterschreiben. Sonst bekomme ihr Vater weiterhin keine Arbeit und könne die Familie nicht ernähren. Die von dem Besuch überraschte T unterschreibt. Für die F faxt der Bankangestellte das Formular in deren Wohnung. F unterschreibt es einige Tage später und faxt es zurück. Ein Jahr später ist A mit seinem Elektrogeschäft zahlungsunfähig. Die B verlangt von T und F 40.000 Euro. Zu Recht ?
Lösung
I. Anspruch der B gegen T aus §§ 765 I, 488 I BGB
B könnte gegen die T einen Anspruch auf Erfüllung der Verbindlichkeit des A aus § 765 I BGB in Höhe von 40.000 Euro haben.
1. Wirksame Hauptverbindlichkeit
Eine wirksame Hauptverbindlichkeit des A in Form des Darlehensvertrages (§ 488 I BGB) mit der Bank liegt vor.
2. Wirksamer Bürgschaftsvertrag
Ein Bürgschaftsvertrag i.S.d. § 765 BGB wurde zwischen B und T geschlossen.
3. Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrags nach § 311 b II BGB
Fraglich ist jedoch, ob der Bürgschaftsvertrag nach § 311 b II BGB nichtig ist. Dazu müsste sich T verpflichtet haben, künftiges Vermögen zu übertragen. Hier hat T zwar nicht ausdrücklich zugestimmt, ihr gesamtes künftiges Vermögen zu übertragen. Zu beachten ist jedoch, dass T arbeitslos ist und keine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Es wäre daher denkbar, dass sie in der Zukunft keine größeren Vermögenswerte aufbauen kann und die Bürgschaft damit praktisch auf eine Übertragung des gesamten Vermögens hinausliefe. Letztlich kann jedoch niemand sicher prognostizieren, wie sich das Vermögen einer Person entwickelt. Hinzu kommt, dass seit Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit der Möglichkeit der Restschuldbefreiung (§§ 304 ff, 286 ff InsO) auch eine hoffnungslose Überschuldung nicht mehr zu einer lebenslänglichen Haftung führt. Folglich ist § 311 b II BGB nicht anwendbar, der Bürgschaftsvertrag ist nicht nichtig.
4. Widerruf der Bürgschaft nach § 355 I BGB i.V.m. §§ 312 I, 312 b I, 312 g I BGB
Fraglich ist, ob T die Zahlung nach Ausübung eines Widerrufsrechts gemäß § 355 I BGB verweigern kann. Dazu müsste ihre Bürgschaftserklärung in den Anwendungsbereich eines Verbrauchervertrags fallen. In Betracht kommt hier ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenes Geschäft nach § 312 b I BGB.
a.) Verbrauchereigenschaft der T
Dazu müsste T Verbraucherin nach § 13 BGB sein. T schließt den Bürgschaftsvertrag nicht im Rahmen einer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit. Damit ist sie Verbraucherin nach § 13 BGB.
b.) Unternehmereigenschaft der B
B müsste Unternehmerin nach § 14 BGB sein. Sie handelt im Rahmen ihrer gewerblichen Tätigkeit. Damit ist sie Unternehmerin nach § 14 BGB.
c.) Außerhalb von Geschäftsräumen des Unternehmers geschlossener Bürgschaftsvertrag
Weiterhin müsste der Vertrag bei persönlicher Anwesenheit von T und B an einem Ort geschlossen worden sein, der kein Geschäftsraum der B ist (§ 312 b I 1 Nr. 1 BGB). Hier besuchte der Bankangestellte die T zu Hause, mithin in einer Privatwohnung. Das Handeln des Bankangestellten ist der B gemäß § 312 b I 2 BGB zuzurechnen. Demnach kam der Vertrag zwischen B und T bei persönlicher Anwesenheit beider außerhalb der Geschäftsräume der B zustande.
d) Entgeltliche Leistung
Schließlich müsste eine entgeltliche Leistung der B vorliegen (§ 312 I BGB). Fraglich ist, ob die Bürgschaft eine solche „entgeltliche Leistung“ darstellt.
aa.) Die ältere Rechtsprechung des BGH
Die Bürgschaft stelle keinen entgeltlichen Vertrag dar. Es handele sich vielmehr um einen einseitig verpflichtenden Vertrag, durch den der Bürge seinerseits keine Gegenleistung erhalte. Nur gegenseitige Verträge nach §§ 320 ff BGB seien Verträge über „entgeltliche Leistungen“ im Sinne des § 312 I BGB. Dafür spreche auch die historische Auslegung: In den Gesetzesmaterialien (zum alten § 1 Haustürwiderrufsgesetz) seien nur Verträge über Dienstleistungen und Warenbestellungen an der Haustür erwähnt. Damit seien Kreditsicherungen wie die Bürgschaft nicht vergleichbar.
bb) Richtlinienkonforme Auslegung
Im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung ergibt sich jedoch, dass auch Bürgschaften von § 312 I BGB erfasst sein müssen. Die Richtlinie 85/577/EWG „betreffend den Verbraucherschutz im Fall von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen“ erlaubt insbesondere eine Gesamtbetrachtung des Dreipersonenverhältnisses (Bank – Hauptschulder – Bürge), sodass die Gegenleistung der Bank in der Darlehensgewährung an den Hauptschuldner erblickt werden kann. Nichts anderes gilt für die (neue) Verbraucherrechte-RL.
Dietzinger-Entscheidung
Nach alter Rechtsprechung kam nun die Besonderheit hinzu, dass bei Bürgschaftsverträgen auf den Charakter der Hauptschuld abgestellt wurde. Dies hatte zur Folge, dass ein Widerrufsrecht nur dann in Betracht kam, wenn nicht nur der Bürge, sondern auch der Hauptschuldner Verbraucher war und zusätzlich die Hauptschuld in einer Haustürsituation begründet wurde (sog. Dietzinger-Entscheidung EuGH, NJW 1998, 1295: „doppeltes Erfordernis von Verbrauchereigenschaft und Haustürsituation“).
Neuere Rechtsprechung
Davon hat sich die Rechtsprechung aber zwischenzeitlich distanziert. Entscheidend ist nach neuer Rechtsprechung (BGH v. 10.01.2006, Az.: XI ZR 169/05) allein, ob der Sicherungsgeber die Verbrauchereigenschaft erfüllt und ob für diesen eine Haustürsituation i.S.d. § 312 I 1 BGB vorliegt (bzw. ob nach aktueller Rechtslage ein Vertrag außerhalb von Geschäftsräumen des Unternehmers geschlossen wurde). Dies deswegen, weil dem Verbraucher in einer solchen Situation letztlich immer die Gefahr drohe, überrumpelt zu werden.
cc.) Im vorliegenden Fall müsste deshalb nur der Bürgschaftsvertrag mit T außerhalb der Geschäftsräume der B zustande gekommen sein. T wurde von dem Bankangestellten in ihrer Wohnung aufgesucht und unterschrieb unter Vorhalt der Notsituation ihres Vaters das Formular. Hier liegt eine klassische Überrumpelungssituation i.S.d. § 312 I 1 BGB vor: der Besuch des Bankangestellten erfolgte für T überraschend, zudem wurde sie psychologisch unter Druck gesetzt. Damit steht der T ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB i.V.m. §§ 312 I, 312 b I, 312 g I BGB zu. Sie kann sich von ihrer Verpflichtung lösen.
5. Nichtigkeit des Bürgschaftsvertrags nach § 138 BGB
Möglicherweise ist die Bürgschaft aber zudem nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig. § 138 II BGB ist lex specialis zu § 138 I BGB und daher stets vorrangig zu prüfen. Für die Anwendung von § 138 II BGB ist allerdings ein Äquivalenzinteresse notwendig. Dies bedeutet, dass ein Rechtsgeschäft vorliegen muss, aus dem beide Seiten verpflichtet sind. Eine solche beiderseitige Verpflichtung fehlt bei der Bürgschaft als einseitig verpflichtendem Vertrag. In Betracht kommt jedoch § 138 I BGB. Dazu müsste im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ein objektiver Sittenverstoß vorliegen, der einer Partei zurechenbar ist.
a.) objektiver Sittenverstoß
Zunächst müsste ein objektiver Sittenverstoß vorliegen. Es könnte hier ein strukturelles Ungleichgewicht der Verhandlungspositionen gegeben sein, das zu einer außergewöhnlichen Belastung der unterliegenden Partei führt. Dies wäre hier der Fall, wenn T durch die Bürgschaft finanziell erheblich überfordert ist und weitere, der anderen Partei zurechenbare Umstände hinzutreten, welche die Freiheit der Willensentschließung beeinträchtigen. T wird einer etwaigen Verpflichtung aus dem Bürgschaftsvertrag in keinem Fall nachkommen können. Eine Hinzurechnung des Vermögens ihrer Eltern kommt nicht in Betracht, da sie mit diesen nicht mehr in einer Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft lebt, sondern eine eigene Wohnung hat. Folglich trifft sie die Verpflichtung alleine. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation liegt eine krasse Überforderung vor und damit eine außergewöhnliche Belastung der T als unterlegener Partei. Ein objektiver Sittenverstoß nach § 138 I BGB ist also gegeben.
b) subjektiver Sittenverstoß
Dieser Sittenverstoß müsste der Bank zurechenbar sein. Die Bank weiß, dass sich Kinder gegenüber Eltern typischerweise in einer Situation der Unterlegenheit befinden. Damit ist die Fähigkeit der Kinder, selbstbestimmte Entscheidungen zu Fragen der wirtschaftlichen Existenz der Eltern zu treffen, eingeschränkt. Zudem verbietet § 1618 a BGB den Eltern, Kinder zur Übernahme einer Bürgschaft zu bewegen, deren finanzielle Leistungsfähigkeit sie bei Weitem überfordert (vgl. BGH NJW 1994, 1278). Der Verstoß gegen § 1618 a BGB drängt sich der Bank hier auf, zudem hat sie durch ihren Angestellten (als Vertreter, § 166 I BGB) auch selber Druck auf T ausgeübt. Folglich ist der Sittenverstoß der Bank zurechenbar.
Daher ist die Bürgschaft sittenwidrig und gemäß § 138 I BGB nichtig.
6. Ergebnis
B hat gegen T keinen Anspruch auf Erfüllung der Verbindlichkeit des A aus §§ 765 I, 488 I BGB in Höhe von 40.000 Euro.
II. Anspruch der B gegen F aus der Bürgschaft gemäß §§ 765 I, 488 I BGB
B könnte gegen F einen Anspruch auf Erfüllung der Verbindlichkeit des A aus §§ 765 I, 488 I BGB in Höhe von 40.000 Euro haben.
1. Wirksame Hauptverbindlichkeit
Eine wirksame Hauptverbindlichkeit des A in Form des Darlehensvertrages mit der Bank liegt vor.
2. Nichtigkeit der Bürgschaft aufgrund Formmangels
Der Bürgschaftsvertrag könnte wegen Formmangels nach §§ 766 S.1, 125 S.1 BGB nichtig sein. Er bedarf der Schriftform.
a) Fraglich ist allerdings, ob die Übersendung der Bürgschaftsurkunde durch Telefax den Bestimmungen von §§ 766 S.1, 125 S.1 BGB genügt. Problematisch ist hier, dass § 126 I BGB eine „eigenhändige Unterschrift“ verlangt. Auf einer Fernkopie durch Fax liegt eine solche Unterschrift nicht vor. Damit wäre der Vertrag nicht wirksam zustande gekommen.
b) Möglicherweise ist § 126 BGB aber teleologisch zu reduzieren. Dafür ist die Formvorschrift nach Sinn und Zweck auszulegen. Bei einer Bürgschaft soll die eigenhändige Unterschrift den Bürgen warnen. Diese Warnfunktion des § 766 BGB kommt aber auch zum Tragen, wenn, wie hier bei F, die Urkunde einige Tage nach Erhalt unterschrieben und dann zurückgefaxt wird. Es kann keinen Unterschied machen, ob die Urkunde nach der geleisteten Unterschrift gefaxt oder per Brief verschickt wird.
c) Allerdings erschöft sich der Formzweck des § 766 BGB nicht allein in der Warnfunktion. Ziel ist daneben auch die Sicherung der Authentizität der Urkunde. Eine per Fax verschickte Urkunde kann leicht gefälscht werden, womit Authentizität nicht mehr gesichert ist. Eine teleologische Reduktion des § 126 BGB ist demnach abzulehnen.
d) Möglicherweise wäre es F aus § 242 BGB verwehrt, sich auf die Formnichtigkeit der Bürgschaft zu berufen. Schließlich hat sie durch die Übersendung per Telefax die Formnichtigkeit herbeigeführt. Allerdings hatte die Bank zuvor bereits die Urkunde an F gefaxt, weshalb bei ihr kein schuztwürdiges Vertrauen entstehen konnte. Sie musste vielmehr damit rechnen, dass die F zur Rücksendung den gleichen Weg wählen würde.
Damit ist der Bürgschaftsvertrag wegen Formmnagels nach § 766 S.1, 125 S.1 BGB nichtig.
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